Schritte zum Gewahrsein – 12. Gleichmut

Veröffentlicht am 21. Juni 2025 um 10:58

Der folgende Text führt in eine tiefgreifende Perspektive auf unsere emotionale Erfahrung ein. Er beschreibt, wie wir durch die Erkenntnis der Non-Dualität zu einem natürlichen Gleichmut finden können, der uns von der Last emotionaler Identifikation befreit.
In einer Welt, die oft von emotionalen Extremen geprägt ist, bietet dieser Text einen alternativen Blick: Emotionen sind nicht “unsere”, sondern fließende Bewegungen im Bewusstsein selbst. Diese Sichtweise führt zu einer inneren Freiheit, in der wir alle Gefühle – ob angenehm oder herausfordernd – mit derselben offenen Präsenz empfangen können.
Der Text erkundet, wie Gleichmut nicht durch Anstrengung oder Unterdrückung entsteht, sondern als natürliche Folge einer tieferen Erkenntnis: dass wir nicht getrennte Wesen sind, die Emotionen “haben”, sondern dass wir der weite Raum des Gewahrseins sind, durch den Emotionen wie Wolken am Himmel ziehen.
Diese Perspektive führt zu einer revolutionären Transformation unserer emotionalen Erfahrung – nicht durch Kontrolle oder Veränderung der Gefühle selbst, sondern durch ein grundlegendes Umdenken unserer Beziehung zu ihnen. Was folgt, ist eine Einladung, die natürliche Ordnung des Bewusstseins zu entdecken und in der gleichmütigen Betrachtung aller Erfahrungen die wahre Schönheit des Lebens zu erkennen.

Die Befreiung vom emotionalen Besitz

Emotionen entstehen und vergehen in einem weiten Raum des Gewahrseins, ohne jemals wirklich jemandem zu "gehören". Sie gleichen Wellen im Ozean des Bewusstseins – sie erheben sich und lösen sich wieder auf, ohne die grundlegende Stille zu berühren.

Freude und Trauer, Angst und Begeisterung sind Ausdruck derselben Lebendigkeit. In der non-dualen Wahrnehmung werden diese emotionalen Bewegungen nicht von einem separaten "Ich" erzeugt, sondern sind natürliche Schwingungen im Feld des Seins.

Gleichmut als natürliche Folge

Gleichmut entsteht spontan aus der non-dualen Erkenntnis heraus. Er ist nicht das Ergebnis einer Anstrengung, sondern die natürliche Folge des Durchschauens der Illusion emotionaler Identifikation. Wenn erkannt wird, dass Emotionen nicht "meine" sind, stellt sich automatisch eine innere Ausgeglichenheit ein.

Diese Form des Gleichmuts ist eine aktive Gelassenheit – eine liebevolle Gleichwertigkeit allen emotionalen Erfahrungen gegenüber. Freude wird nicht bevorzugt, Trauer nicht abgelehnt. Beide werden als gleichermaßen wertvolle Ausdrucksformen des einen Lebens betrachtet.

Jenseits von Identifikation

Die Veränderung liegt darin, die Identifikation mit Emotionen aufzulösen. Anstatt "ich bin traurig" entsteht die Erkenntnis: "Trauer bewegt sich durch das Bewusstsein".

Gleichmut bedeutet, dass sowohl angenehme als auch herausfordernde Emotionen mit derselben offenen Präsenz empfangen werden. Wie der Himmel unverändert bleibt, ob Wolken oder Sonnenschein durch ihn hindurchziehen, so bleibt das reine Gewahrsein unberührt von allen emotionalen Wetterlagen.

Die Gleichwertigkeit aller Gefühle

In der Haltung des Gleichmuts haben alle Gefühle denselben Status als Ausdrucksformen des einen Bewusstseins. Es gibt keine Hierarchie mehr zwischen "positiven" und "negativen" Zuständen.

Gleichmut ermöglicht es, jede emotionale Bewegung mit liebevoller Neutralität zu betrachten. Dies ist keine Gleichgültigkeit, sondern eine aktive, mitfühlende Präsenz, die alle Aspekte des menschlichen Erlebens als gleichermaßen heilig anerkennt.

Die natürliche Ordnung

Was sich in dieser gleichmütigen Haltung offenbart, ist die natürliche Ordnung des Bewusstseins, befreit von den Konstruktionen des separaten Selbst. Emotionen werden zu dem, was sie immer schon waren: spontane Ausdrucksformen der einen Lebendigkeit.

Gleichmut ist dabei nicht Ziel, sondern natürlicher Ausdruck der non-dualen Erkenntnis. Er entsteht von selbst, wenn die fundamentale Einheit allen Seins erkannt wird. In dieser Erkenntnis liegt eine tiefe Befreiung – eine Rückkehr zu dem offenen, weiten Raum des Gewahrseins, in dem alle Erfahrungen in vollkommener Gleichwertigkeit aufblühen und vergehen.

Die Emotionen gehören niemandem und doch jedem – sie sind Geschenke des Lebens an sich selbst, Farben auf der Leinwand des Bewusstseins, die in der gleichmütigen Betrachtung ihre wahre Schönheit offenbaren.

Praktischer Teil

Gleichmut ist eine zentrale Qualität in der spirituellen Praxis und bezeichnet einen Zustand der inneren Gelassenheit und Ausgeglichenheit, der es ermöglicht, sowohl angenehme als auch unangenehme Erfahrungen mit Ruhe und Akzeptanz zu betrachten. Diese fünf Übungen helfen dabei, Gleichmut systematisch auf verschiedenen Ebenen des menschlichen Erlebens zu entwickeln.

1. Wahrnehmung: Die Bergmeditation

Setze dich in eine aufrechte, aber entspannte Position und schließe die Augen. Stelle dir vor, du bist ein Berg – fest verwurzelt, unerschütterlich und beständig. Beobachte bewusst alle Sinneswahrnehmungen um dich herum: Geräusche, Temperaturen, Berührungen der Kleidung auf der Haut.

Praktiziere dabei die Technik des neutralen Beobachtens: Wenn deine Aufmerksamkeit zu bestimmten Wahrnehmungen hingezogen wird oder du sie ablehnst, wiederhole innerlich "nur dies", um dich im gegenwärtigen Moment zu verankern. Diese Übung hilft dir, alle Sinneserfahrungen gleichwertig wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten oder zu bevorzugen. Die Bergmeditation entwickelt eine stabile Wahrnehmung, die wie ein Berg unverändert bleibt, egal welche "Wetter" – angenehme oder unangenehme Empfindungen – durch ihn hindurchziehen.

2. Gefühle: Die Wellen-Beobachtung

Wenn starke Emotionen aufsteigen, praktiziere die Wellen-Übung. Setze dich ruhig hin und beobachte entstehende Gefühle wie Wellen im Ozean deines Bewusstseins. Erkenne, dass du nicht die Welle (das Gefühl) bist, sondern der Ozean (das Bewusstsein), in dem sie erscheint.

Verwende eine dreistufige Beobachtung: Fühle das Gefühl körperlich, bemerke begleitende Gedanken und nimm körperliche Empfindungen wahr. Benenne die Emotion neutral: "Trauer ist da", "Freude zeigt sich", ohne sie als "meine" zu bezeichnen. Diese Praxis führt zur emotionalen Nicht-Identifikation und entwickelt die Fähigkeit, alle Gefühle mit derselben liebevollen Neutralität zu betrachten.

3. Denken: Die Wolken-Meditation

Praktiziere täglich 10-15 Minuten Achtsamkeitsmeditation, bei der du deine Gedanken wie Wolken am Himmel beobachtest. Sitze ruhig und konzentriere dich auf deinen Atem. Wenn Gedanken auftauchen, erkenne sie an, ohne ihnen zu folgen oder sie zu bewerten.

Stelle dir vor, dein Bewusstsein ist der weite Himmel und die Gedanken sind vorüberziehende Wolken. Du bist weder die Wolken noch musst du sie vertreiben – du bist der Raum, in dem sie erscheinen und vergehen. Wenn du merkst, dass du in Gedankenströme verwickelt wirst, kehre sanft zur Beobachtung des "Himmels" zurück. Diese Übung entwickelt die Fähigkeit zur kognitiven Flexibilität und verhindert, dass du dich mit jedem auftauchenden Gedanken identifizierst.

4. Handeln: Achtsame Alltätigkeiten

Wähle eine einfache tägliche Aktivität wie Tee trinken, Gehen oder Essen und führe sie mit vollständiger Achtsamkeit aus. Konzentriere dich dabei nicht auf das Ergebnis, sondern auf den Prozess selbst.

Beim achtsamen Gehen spüre jeden Schritt bewusst: Wie berühren deine Füße den Boden, wie bewegen sich deine Beine, welche Empfindungen entstehen? Praktiziere "Tun ohne Täter" – lasse die Handlung geschehen, ohne das Gefühl eines kontrollierenden "Ichs".

Entwickle dabei die Haltung des bewussten Handelns: Wenn du impulsiv reagieren möchtest, halte inne und wähle bewusst eine ausgeglichene Reaktion. Diese Praxis kultiviert Gleichmut in der Aktion und verhindert automatische, unausgewogene Reaktionen.

5. Reflexion: Die Gleichmut-Kontemplation

Beende jeden Tag mit einer 10-minütigen Reflexionsübung. Stelle dir dabei folgende Fragen: "Wo habe ich heute Gleichmut erfahren?", "In welchen Situationen bin ich aus dem Gleichgewicht geraten?", "Was kann ich morgen anders machen?".

Praktiziere eine traditionelle Gleichmut-Meditation mit dem Gedanken: "Alle Wesen sind verantwortlich für ihre eigenen Erfahrungen. Ihr Glück oder Unglück beruht auf ihren Handlungen, nicht auf meinen Wünschen". Beginne mit neutralen Personen, dann mit Freunden, schwierigen Menschen und schließlich allen Wesen.

Führe ein Gleichmut-Tagebuch, in dem du täglich notierst, wo du emotionale Balance erlebt hast und wo nicht. Diese Reflexion hilft dir, Muster zu erkennen und deine Gleichmut-Praxis zu vertiefen.

Integration in den Alltag

Diese fünf Übungen ergänzen sich gegenseitig und können schrittweise in den Alltag integriert werden. Beginne mit der Übung, die dir am leichtesten fällt, und erweitere nach und nach deine Praxis. Mit Geduld und regelmäßiger Übung wird Gleichmut zu einer natürlichen Reaktion auf das Leben, die es ermöglicht, mit mehr Gelassenheit und Weisheit zu handeln.

Gleichmut ist nicht Gleichgültigkeit, sondern eine aktive, liebevolle Präsenz, die alle Aspekte des Lebens gleichermaßen würdigt. Durch diese systematische Praxis entwickelst du die Fähigkeit, inmitten aller Lebensumstände zentriert und ausgeglichen zu bleiben.


„Meer der Gelassenheit“

Dieser Song entführt in einen Raum innerer Ruhe, in dem Gefühle wie Wellen im Ozean des Bewusstseins auftauchen und wieder vergehen. Der Song verbindet die Praxis des Gleichmuts – eine Haltung tiefen Ausgleichs und liebevoller Neutralität gegenüber Freude und Schmerz – mit dem Prinzip der Non-Dualität, in der die Trennung zwischen „Ich“ und „Welt“ aufgehoben wird. Sanfte Melodien und bildhafte Texte laden dazu ein, im gegenwärtigen Moment verankert zu sein und das Leben als fortlaufende, verbundene Erfahrung zu erleben.

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